Freitag, 11. Februar 2022
Ein Plädoyer 1
Hohes Gericht,
wir bestreiten nicht die Zuständigkeit dieses internationalen Gerichtshofes in der Strafsache "Wolf und die 7 Geißlein", da in einer Vielzahl von Ländern auf nahezu allen Kontinenten außer der Antarktis, was noch zu klären wäre, Wölfe und Ziegen in mehr oder weniger friedlicher Gemeinschaft leben und daher direkt oder indirekt an diesem aufsehenerregenden Prozess lebhaft Anteil nehmen.
Wir bestreiten auch nicht den Vorwurf, dass Wolf sechs der insgesamt sieben Kinder der Frau Geiß zumindest vorübergehend gefressen hatte.
Wir bestreiten ebenfalls nicht die Tatsache, dass Wolf sich widerrechtlich Zutritt zum Haus von Mutter Geiß in deren Abwesenheit verschafft hat, indem er die Unerfahrenheit, oder sollte ich besser sagen die Dummheit der Geißensprösslinge ausnutzte, welche ihm dann allerdings freiwillig, da ohne Gewaltanwendung, ich betone nochmals, FREIWILLIG die Tür öffneten. Schon allein diese Tatsache darf man doch wohl als zumindest teilweise Einwilligung ins Gefressenwerden verstanden wissen.
Was wir allerdings vehement bestreiten, ist die Objektivität der Darstellung der Ereignisse in den Kinder-und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Dieses sogenannte Beweisstück erachten wir für tendenziös einseitig zu ungunsten des Beklagten und vor allem grundfalsch in der Festschreibung, wer in der Geschichte Täter und wer Opfer ist. Aber auf die Rolle dieses Brüder-Duos als mutmaßliche Drahtzieher des Verbrechens komme ich später noch ausführlicher zu sprechen.
Zunächst zu den offensichtlichen Ungereimtheiten. Da wären zuerst die angeblichen Motive des Angeklagten. Hunger als Motiv konnten wir ausschließen, da Wolf ja bereits nach dem Verzehr einer Ziege satt gewesen wäre. Wozu also sechs verschlingen und eine Magenverstimmung riskieren?
Die zweite Hypothese, die die Anklage mit windigen Expertenaussagen zu konstruieren versuchte, es sei eben seine wölfische Natur, arme unschuldige Tierkinder zu fressen, weisen wir noch einmal ausdrücklich als beleidigend, ewig gestrig und zutiefst rassistisch zurück. Wir führten aus, dass allein schon Wolfs Bekanntschaft mit dem Bäcker beweist, dass er sich pflanzlich ernähren wollte.
Da Wolf also keine eigenen plausiblen Motive für die Tat hatte, sollten wir mit aller Ernsthaftigkeit von einem verschleierten Komplott gegen ihn oder zumindest Anstiftung durch einen oder mehrere Dritte ausgehen.
Außerdem frage ich Sie, liebe Zuhörer, wer ist nun im Ergebnis eigentlich der Geschädigte bzw das Opfer? Mein Mandant, der Beklagte, ist tot im Gegensatz zu den quicklebendigen Geißenkindern.
Wie konnte es nun zu dieser Fehlbewertung, mein Mandant sei hier der Böse, kommen? Allein darum geht es hier, verehrte Geschworene, allein darum.

Fortsetzung folgt

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