Donnerstag, 3. März 2022
Ein Plädoyer 3
So unangenehm es mir auch ist, ist es dennoch meine Pflicht als Verteidiger, auch die dubiose Rolle der Hauptbelastungszeugen, nämlich der süßen, kleinen Geißlein, anzusprechen. Sie sind klein, ja, soweit so gut, aber sind es wirklich Kinder?
Geburtsurkunden existieren ebenso wenig wie Vaterschaftsnachweise. Wir müssen uns also allein auf das Wort dieser, wie festgestellt, wenig verantwortungsvollen Mutter verlassen, dass diese sieben kleinen Ziegen, die vor uns sitzen, ihre leiblichen Kinder sind und nicht zum Beispiel eine hergelaufene Bande von erwachsenen Zwergziegen.
Nun gut, glauben wir für den Moment, es handelt sich tatsächlich um Kinder. Aber müssen diese zwangsläufig unschuldig sein? Nur weil sie Kinder sind?
Sicherlich sind einige von Ihnen in Großfamilien aufgewachsen, mit vielen Geschwistern. Gehört es da nicht zum Alltag, dass es kleine Eifersüchteleien gibt und Neidereien, wenn es um das letzte Stückchen Torte geht zum Beispiel oder ein Spielzeug?
Harmlose Balgereien unter liebevollen Geschwistern, sagen Sie. Ja, ich sehe einige von Ihnen lächeln. Und so ist es gewiss in der überwältigenden Mehrzahl der Familien. Und das Jüngste fühlte sich immer am meisten benachteiligt. Das verwächst sich, normalerweise.
Allerdings belegen Studien, dass in westlichen Industriegesellschaften erschreckende 15% der Bevölkerung zu soziopathischem Verhalten neigen.
Das ist Fakt.
Und angenommen eines ihrer putzigen sieben Kinder erweist sich als Soziopath? Würden Sie das merken? Würden Sie es solange verdrängen, bis es durch kriminelles Verhalten nicht mehr zu leugnen wäre? Und ihr Schätzchen ersänne aus Eifersucht den Plan, seine sechs Geschwister auf elegante Art loszuwerden, wäre es da nicht eine vorzügliche Idee, so etwas einem Wolf in die Schuhe zu schieben?
Wir können auch diese Hypothese, so unangenehm sie uns auch ist, nicht für gänzlich unmöglich halten.
15%. Denken Sie einmal darüber nach. Die Wissenschaft lügt nicht, im Gegensatz zu Zeugen und Verschwörern.
Eine weitere Merkwürdigkeit im Hause Geiß: Wieso gab es nur einen einzigen Panikraum, mit Platz für nur ein Kind und das bei insgesamt sieben Kindern?
Als hätte man aus dem Untergang der Titanic nichts gelernt. Rettungsboote für alle Passagiere sind seither Pflicht.
Sollte vielleicht nur ein Kind überleben? Und vielleicht ein bestimmtes, nämlich das einziges, das in den Panikraum im Uhrkasten aufgrund seiner Größe passt? Ein schrecklicher Verdacht, ich weiß. Aber ist das alles wirklich Zufall?
Was sagten diese angeblichen Kinder vor Gericht also aus? Sie hätten meistens gespielt und den Wolf nicht erkannt, als er mit Piepsstimme und weißer Mehlpfote angeklopft hatte.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, gespielt? Was denn? Mit Bauklötzen oder doch mit Wackersteinen? Oder haben sie gepokert um den Platz im Uhrkasten? Wir wissen es nicht, da sich die Zeugen mit reichlich Rotz und Wasser und Tränengeheul theatralisch aus der Affäre gezogen haben.
Wir können aber festhalten, dass sie entweder zu dämlich waren, um ihre eigene Mutter von einem Wolf zu unterscheiden. Da greift dann wohl das Recht des Dschungels oder aber, da ging etwas ganz anderes vor sich. Was das war, das überlasse ich Ihrer Vorstellungskraft, liebe Anwesende und machen wir doch hier eine kurze Pause, bevor ich zum Ende komme.

Fortsetzung folgt

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